DAS FASZINOSUM DER SCHMALEN VERKEHRSWEGE
Die sich
Ihnen gleich öffnende Sonderausstellung "Historische Stiegen" ist -
soweit das die räumlichen Möglichkeiten und finanziellen Mittel zuließen
-, auf einem modernen Museumsstandards genügenden Niveau: gut lesbare
Texte, eine die Ausstellung begleitende stark bebilderte Publikation,
spannende Fotografien aus unterschiedlichsten Quellen, die
hochvergrößert wurden sowie eine in Dauerschleife laufende
Bildschirm-Präsentation, die Ihnen in 17 Minuten in Texten und Fotos die
wesentlichen Aspekte prägnant nahebringen kann (sie läuft in der Küche
von Haus Westerhoff).
Gerade WEIL diese Bildschirmpräsentation
ständig verfügbar sein wird in der Ausstellung, habe ich mir
vorgenommen, in meiner Ansprache etwas ANDERE Schwerpunkte zu
setzen. Wir Deutsche leisten uns den Luxus eines Nationaldichters,
Johann Wolfgang von Goethe, und ich finde, der darf zu einem solchen
Anlaß auch mal ran, oder? Und: Goethe liefert ab! Im ersten Teil des
FAUST sinniert dieser in der Nachtszene über Tradition und Gegenwart das
sattsam bekannte und eben auch heute sehr zitable: "Was du ererbt von
deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen."
Was, bezogen
auf UNSERE Situation doch nichts Anderes heißen kann als: Wir HABEN
reichlich Stiegen, aber es kostet uns Mühe, sie zu einem Teil unseres
Bewußtseins zu machen, und da es SEHR viele sind in Bad Bentheim,
erscheint diese Aufgabe SO groß, daß es uns leichter vorkommt, sie gar
nicht erst anzugehen, gäbe es da nicht eine noch viel ältere hilfreiche
Stimme, sie stammt von Lao-Tse: "Auch der weiteste Weg beginnt mit einem
ersten Schritt."
Dieser schlicht daherkommende Satz des
chinesischen Denkers Lao-Tse, lockere 2.600 Jahre alt, beschreibt die
Situation der Bentheimer Stiegenfreunde und der Bentheimer Stiegen
treffend: die schiere Zahl (es gibt weit über 50 dieser historischen
Wege) und ihr zum Teil trauriger Zustand, und das in einem sozialen
Gefüge, das man selbst beim besten Willen nicht als eine
Fußgängergesellschaft charakterisieren kann, das sind richtig schlechte
Voraussetzungen für diese schmalen, auf den ersten Blick unscheinbar
wirkenden historischen Verkehrswege, deren Faszinosum wir hier in der
Sonderausstellung nachspüren. Andererseits: in dem Lao-Tse-Zitat: "Auch
der weiteste Weg beginnt mit einem ersten Schritt" schwingt der Gedanke
mit: es gibt keinen Grund mutlos zu sein: liegt ein langer Weg vor Dir,
dann ist das so, leg einfach los.
Im Grunde haben wir exakt DAS
gemacht. Wir, die Bentheimer Stiegenfreunde, eine bewußt lose, nicht in
Vereinsform organisierte Interessengemeinschaft haben erkannt, daß es
lohnt, sich für diese historischen Bentheimer Verkehrswege einzusetzen,
weil diese - modern formuliert - dringend einer Lobby bedürfen: oft
zugekleckert mit Asphalt anstelle einer echten Sanierung, bis vor Kurzem
teilweise namenlos geblieben, langzeitlich vernachlässigt, da bekommt
das Wort "un-bekümmert" einen ganz neuen Sinn. Im Extremfall waren und
sind Stiegen sogar von Schließung oder Überbauung bedroht. Da ist es
sehr hilfreich, daß es Menschen wie Jürgen Schevel gibt, die - zusammen
mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern - die klare Auffassung vertreten:
hier muß etwas geschehen.
Ich selbst bin erst relativ spät
dazugekommen, nämlich nachdem ich einen Artikel in den 'Grafschafter
Nachrichten' lesen konnte, in welchem Bildmaterial zum Thema nachgefragt
wurde. Die Stiegenfreunde hatten da bereits den Plan, irgendwann eine
Sonderausstellung im Bentheimer Sandsteinmuseum zu realisieren, aber
zunächst galt es, dem Projekt eine Struktur zu geben. Ich habe spontan
angeboten, aus dem bereits vorhandenen Bildfundus eine Homepage zu
entwickeln, weil es nach meiner Einschätzung die eindeutig beste
Möglichkeit bietet, vielen Menschen ein Spezialthema so richtig
nahezubringen, weil es dabei nicht verpflichtend ist, linear vorzugehen,
von Seite 1 über 2 zu 3, sondern interessegeleitet, sozusagen
blumenpflückend, eben - wie die Erstellungsmethode das bereits im Teil
der Abkürzung trägt: HTML, HYPERTEXT. (Falls sie unsere Homepage noch
nicht kennen: im letzten nördlichen Raum hier im Haus Westerhoff steht
auf einem Schreibtisch ein PC mit der aktuellen Fassung der Homepage,
Sie können sich gern hinsetzen und es ausprobieren.) Steht das
Grundgerüst einer solchen Homepage erst einmal fest, kann man -
mosaiksteinartig zuliefern - "Butter bei die Fische packen", wie wir im
Norden sagen, wann immer neues Material eintrifft.
Für die
Mehrzahl der Stiegen GAB es gar keine Fotos, sie waren halt da, aber im
frühen 20. Jahrhundert, als Lichtbilder noch etwas Besonders und auch
Teures waren, kaum bildwürdig. Daher standen wir vor der Aufgabe, sie
mit einer Kamera in der Hand, nach und nach zu erfassen. Oft trafen wir
dabei auf Menschen, die uns zum Teil fragten, was wir da machen, und das
Erstaunliche war, daß wir KEINEN EINZIGEN FALL einer negativen Reaktion
erlebten; immer hieß es: das finden wir GUT, daß sich jemand um die
alten Stiegen kümmert. Wir hatten also Rückenwind, auch in Form von
Zulieferungen von Sammlern. Die Zeit war in sofern günstig, als
heutzutage sehr moderate Preise für Nutzungsvolumen auf einem
Internet-Server die Regel sind und wir auf kostenloses, nicht
lizenzgebührpflichtiges Stadtkartenmaterial zurückgreifen konnten bei
unseren Detaildarstellungen.
Was haben wir hier mit Ihnen vor?
Uns war von vornherein klar: unsere Hauptdarsteller sind die relativ
wenigen historischen Stiegen-Aufnahmen, die sich erhalten haben. Wir
haben sie so hoch vergrößert, wie es die Vorlage erlaubte, um ihren
exemplarischen Charakter, den oft spröden Charme hervortreten zu lassen,
also KLASSE statt MASSE. Als wir gestern nochmal einen Rundgang machten
zur letzten Überprüfung, hatte ich das Empfinden, daß das angesichts des
begrenzten Platzangebotes genau der richtige Weg war.
Es macht
Freude, die BB Stiegen-Vielfalt zu entdecken: oft nur wenige Meter lang,
schmal, und oft erstaunlich SCHNELL! Lassen Sie mich das an einem
Beispiel verdeutlichen: ich wohne zur Zeit im Süden von Bentheim, in der
Stettiner Straße. Wenn ich meine Freunde auf dem Kathagen, die Familie
Austrup besuchen möchte, mit dem Auto, OHNE eine Stiege zu benutzen, ist
das ein ziemlich weiter Weg dorthin: über die Posener Straße zur
Südstraße, bis zum Kreisel am Friedhof, dann die Ochtruper Straße hoch
fast bis zum Pariser Platz (eine dem Fahrziel entgegengesetzte
Richtung!), rechts hoch in die Straße "Am Wasserturm" und den langen
Kathagen entlang, ich hab's auf Google Earth nachgemessen: 2.430 Meter,
exakt. Und im Kontrast dazu: MIT Stiegennutzung? Mit meinem Fahrrad bis
zum Ende der Klapperstiege, dann "Im Stegehoek", die nette kleine
"Püttenhoekstiege" queren (schon bin ich im Ostend), die Lippoldstiege
hoch, Obere Flossstege, Stienekerstiege, Ziel erreicht, ich hab's
gestoppt: 7 Minuten, Fahrrad OHNE Elektroantrieb, Entfernung: knapp
1.100 Meter, also REICHLICH weniger als die Hälfte, das ist schon
faszinierend, oder?
Aber so nostalgisch anrührend die Aufnahmen
in der Ausstellung auch sein mögen, es handelt sich hier nicht um eine
Kunstausstellung mit vornehmlich ästhetisch orientierten Absichten,
sondern um eine regionalpolitische Aktion: die Bentheimer Stiegen
könnten in der Zukunft eine Rolle spielen, die sie im bisherigen
touristischen Dreiklang (Burg, Bad, Bühne) noch nie innehatten. Bad
Bentheim könnte gewinnen!
Die Stadt besitzt durch die schiere
Menge an Stiegen ein echtes Alleinstellungsmerkmal - wir haben das
geprüft -, bundesweit, also in ganz Deutschland gibt es keine andere
Stadt mit so vielen historischen Verkehrswegen mit dieser
Charakteristik. Bentheim KÖNNTE also mit einem weiteren touristischen
Pfund wuchern, ein wirklich vorzeigbarer baulicher Zustand und ein
strukturierter Pflegeplan (eine 'Stiegensatzung') vorausgesetzt.
Die Bentheimer Stiegenfreunde haben reichlich Vorarbeit dazu
geleistet, beginnend mit dem detaillierten Stiegenkataster von Jürgen
Schevel und Hunderten von dokumentarischen Fotografien auf der Homepage,
auch von mir an dieser Stelle mein herzlicher Dank an Alle, die Fotos zu
diesen Projekt beigesteuert haben. Man muß unseren Nationaldichter v.
Goethe nicht zwingend mögen, aber seine schon eingangs zitierten
Faust-Zeilen: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu
besitzen", geben hier einen sinnvollen Weg vor.
Je mehr Menschen
bereit sein werden, sich für den Erhalt bzw. die Wiederherstellung
dieser sehr besonderen Bentheimer Verkehrswege einzusetzen, umso besser.
Ich bin mir sicher, daß diese Ausstellung dazu beitragen wird, diesen
historisch gewachsenen Wegen wieder zu neuem Glanz zu verhelfen. Sie ist
jetzt eröffnet! Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Horst Otto
Müller, 26. Juni 2022
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